Traumata und ihre Verarbeitung als Form künstlerischen Ausdrucks

Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung von Jose Guerrero Maria Medina in Bad Godesberg vom 11.2.11 von Dr. Wolfgang Hagemann.1

Zur Erinnerung an den siebzigsten Jahrestag des Spanischen Bürgerkriegs widmet Jose Guerrero Maria Medina 52 großformatige Bilder seiner Auseinandersetzung mit dem Thema der Flucht 1939 aus Katalonien nach Südfrankreich, an der auch sein Vater hatte teilnehmen müssen. Er selbst war zu dieser Zeit noch nicht geboren.2 Um zum „emotionalen Augenzeugen“3 werden zu können, hat Jose sich intensivst mit dokumentarischem Material, dass ihm zugängig war, befasst, wie er in dem Vorwort zu seinem Katalog: La retirada exilis beschreibt: „Als ich diese Thematik wieder aufgriff, folgte ich den gleichen Schritten wie damals, immer beginnend mit den wesentlichen Dokumenten, sowohl graphischen als auch literarischen, um meinen emotionalen Grad zu erhöhen, den ich brauchte, um ihn auf die Malerei zu übertragen.“ Er beschreibt den zentralen Ansatz seiner Arbeit: er durchdringt das Thema, nähert sich ihm kognitiv rational, verarbeitet es emotional und verdichtet es zu inneren Bildern. Seine hohen künstlerischen Fähigkeiten ermöglichen es ihm, sich für das ausdrucksstärkste Werkzeug und Material zu entscheiden, hier schwarze chinesische Tinte auf Papier, und diese inneren „Vorbilder“ zu malen.

Was er ungenannt lässt, ist die unmittelbare Betroffenheit, die dieses Thema in ihm ausgelöst haben dürfte. Wir wissen aus der intensiven Forschung kriegstraumatisierter Menschen, dass sie das Erlebte oftmals ihr Leben lang mit sich tragen. Als Eltern geben sie es an ihre Kinder weiter, oft ohne Worte, manchmal mit dem Hinweis: das ist nichts für eure Ohren! Oder: Das könnt ihr euch sowieso nicht vorstellen! Oder den erlebten Schrecken verharmlosend, indem Anekdoten aus dem Lager erzählt werden, als sei man auf einem sommerlichen Ausflug gewesen.

Es kommt für mich vor seinem eigenen biografischen Hintergrund nicht überraschend, dass er in seinen Bildern eine Distanz wahrt, die einen tiefen Respekt vor dem Leid der Menschen ausdrückt, uns aber dennoch einen berührenden Blick in die Seele einzelner ermöglicht. In immerhin 23 Bildern zeigt er uns Portraits von jungen und alten Menschen, Männern wie Frauen. Als hätte er diesen Menschen leibhaftig gegenübergestanden, sich ihrem Leid weit geöffnet, es in sich aufnehmend, aufsaugend. Leid, Schrecken, Verzweiflung, tiefe Erschöpfung, das Aushauchen des Lebens durch nur noch schwach angedeutete sich auflösende Gesichtszüge springen den Betrachter an, berühren ihn, können ihn in seiner Seele zutiefst erschüttern. Wir können gegebenenfalls die Gesichter unserer Eltern und Großeltern wiedererkennen, wenn diese manchmal im Alltag emotional für uns nicht erreichbar schienen, scheinbar unbegründet in panische Angst verfielen oder ihre aufgestaute Anspannung sich entlud und wir nicht verstanden, woher diese kam.

Ein Portrait ist nur noch angedeutet und weist auf einen weiteren Aspekt hin. Wenn wir noch den Menschen ins Gesicht sehen konnten, die in ihrem Leben haben flüchten müssen, so stellen wir ihn uns mimisch und gestisch vor. Seine Gesichtszüge verlieren jedoch mit der Zeit ihre Konturen. Sie verblassen zu Schemen, wenn wir nur aus Erzählungen erfahren haben, was Angehörigen auf der Flucht widerfahren ist.

„Ich hatte den Eindruck, dass ich während der Schaffung dieser Werke einen Rückschritt machte, um emotionaler Zeuge einer Tragödie sein zu können. Das Werk konnte für sich selber sprechen, es reichte, sich ihm zu widmen und sich von ihm treiben zu lassen, es machte mich zum Zeugen der Durchreise für diese Galerie der Menschen.“

Fünf mal zeichnete er lange Menschenschlangen, in dem der einzelne verloren geht, kein Gesicht hat, nur Teil der Schlange ist. In anderen arbeitet er Detail heraus, lässt einzelne Szenen und emotionsstarke Gesichter von Menschen in der Menge deutlich werden. In drei Bildern holt er ganze Menschen in den Vordergrund: eine alte erschöpft hingesunkene Frau, einen Kraft strotzenden jungen Mann mit freiem muskulärem Oberkörper und entschlossenem Gesichtsausdruck, und einen stolzen alten Mann, der sich dem Schicksal nicht ergeben zu wollen scheint, trotz Krückstocks mit erhobener Haltung. Wenn wir uns emotional berühren lassen, gelingt es uns nicht, den einzelnen auszublenden, sich ihn nur als anonymen Teil einer amorphen Menschenschlange auf Dauer vorzustellen. Unser inneres Auge sucht immer wieder nach dem Detail, dem gefühlshaften Ausdruck im Gesicht und in der Körperhaltung.

Das Bemühen des Künstlers um emotionale Zeugenschaft, die Beschäftigung mit Informationsquellen unterschiedlichster Art beschreibt den Weg, wie wir, die wir selbst weder Krieg noch Flucht erleben mussten, uns einem tieferen Verständnis von Menschen nähern können, die fliehen mussten, ob damals aus Katalonien, aus den Ostgebieten 1944/45, aus Kriegsgebieten wie ehemals Jugoslawien 1992 u.s.w. Ca. 45 Millionen Menschen auf der Welt befinden sich jedes Jahr auf der Flucht. Jeder Mensch malt sich seine inneren Bilder, nur der Künstler jedoch vermag sie über seine Werke direkt zu kommunizieren.

„Das letzte Werk, das ich schuf, um den Zyklus der Bilderreihe zu beenden, entstand nach einem Besuch der Strände des Ortes Argelés von meiner Frau Pilar und mir im Frühling: es war kalt, die Sonne schien nicht und der Strand war leer. Wir empfanden den Strand als klein. Ich stellte mir eine menschliche Masse vor, dunkel und kalt, nur durch einen einzigen Wächter beaufsichtigt, aber nach Art einer Säule, den ganzen Schmerz dieser Masse aushaltend, damit nichts dieser Tragödie irgendwohin entfliehen konnte, wo die Hoffnung sie befreien könnte.“ Guerrero Medina hat so gut wie keine Hände gemalt. Mit unseren Händen packen wir zu, gestalten wir kreativ, setzen wir unsere Ideen und Gedanken um. Ohne sie sind wir weitgehend handlungsunfähig, ausgelieferter, hoffnungsloser. Die alte Frau, im Vordergrund einer wartenden Menschenmenge sitzend, stützt ihren Klopf auf ihre Hand, zwei junge Menschen haben ihre Hände ineinandergelegt, sich festhaltend, Nähe ausdrückend; der alter Mann stützt sich auf seinen Gehstock. Lediglich dem jungen kräftigen Mann mit entschlossenem Gesichtsausdruck hat der Künstler Hände gegeben, als sollte dieser sich gegen die Hoffnungslosigkeit der anderen stemmen.

Immer wieder berichten Menschen in der Therapie, dass sie an ihren Geburtsort, von dem sie haben fliehen müssen, zurückgekehrt sind, sobald dies politisch möglich war. Auch reisen Kinder alleine an den Ort, wo ihre Mutter oder ihr Vater geboren worden sind, so als wollten sie quasi ihre Spur aufnehmen, den Fluchtpunkt der Seelenwanderungen ihrer traumatisierten Eltern sehen, um so ihnen näher zu kommen.

Dr. Wolfgang Hagemann

Als Psychotherapeut beschäftigen mich die Auswirkungen der Kriegstraumata auf die emotionale Bewegtheit der Betroffenen und heute mehr noch der Kinder dieser Eltern. Viele psychosomatische Krankheiten in beiden Generationen lassen sich in einen psychodynamischen Zusammenhang bringen, der sich in traumatisierenden Kriegs- und Fluchterfahrungen begründet.

  1. Kurz zu meiner Person: 1952 geboren bin ich sogenanntes Nachkriegskind. Insbesondere meine Mutter hatte massiv unter den Kriegsfolgen und den anschließenden beiden strengen Wintern und Hungersnöten zu leiden. Meine Schwiegermutter musste 1944 als 14/15-jährige aus Schlesien fliehen. Die Flucht hat ihr Vater nicht überlebt. 

  2. Wer ein zutiefst berührendes Zeitzeugendokument zu den unvorstellbar grausamen Zuständen, wie sie zumindest 1943 in dem Lager herrschten, in dem seine Eltern 1939 notdürftig einquartiert waren, lesen möchte, greife zu „Manfred Weil – Sein oder Nicht sein“ von Mechthild Kalthoff. Wegen Mangel an Nahrung und Wasser und so gut wie nicht vorhandener hygienischer Maßnahmen, brachen Seuchen aus, starben tausende Menschen elendiglich. 

  3. Alle Zitate von Guerrero Medina in Paranthese sind aus einer Übersetzung aus dem zu dem Thema gehörigen Kunstkatalog von Wolfgang Engert.